Ursprünge und anfängliche Entwicklung des Heilpraktikerberufs


Oftmals wird die These in den Raum gestellt, der Beruf des Heilpraktikers sei ein Relikt nationalsozialistischer Gesetzgebung. Diese Behauptung erweist sich jedoch als falsch. In diesem und den kommenden Newslettern beschreibe ich die historische Entwicklung des Heilpraktikerberufs. Dies lässt interessante Rückschlüsse auf die aktuellen Diskussionen zum Heilpraktikerrecht zu.

Das Berufsbild des modernen Heilpraktikers entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es stellte eine Reaktion auf eine zu dieser Zeit verstärkt einsetzende Verwissenschaftlichung der Medizin dar. Die physikalischen und chemischen Untersuchungsmethoden der aufkommenden klinische Medizin stuften den Patienten zu einer „messbaren Größe“ herab. Die Erkrankten sahen sich vermehrt invasiven und gefährlicheren Therapieverfahren ausgesetzt. Die Eskalation des Kräftemessens zwischen Krankheit und ärztlicher Therapie löste eine naturheilkundliche Gegenströmung aus. Diese lehnte schulmedizinische Verfahren als unnatürliche Eingriffe in den Prozess von Krankheit und Gesundheit ab.

Die Heilpraktikerschaft vereinigte in sich unterschiedliche naturheilkundliche Therapierichtungen. Ihr oberstes Gebot bei der Berufsausübung bildete der Grundsatz: „nihil nocere“, niemals zu schaden. Die Therapieformen verfolgten einen ganzheitlichen Ansatz mit dem Ziel, den Weg zu einer natürlichen Heilung zu ebnen. Körper, Seele und Geist waren bei der Aktivierung der Selbstheilungskräfte gleichwertig. Das Aufkommen der Heilpraktiker warf die grundsätzliche Frage auf, ob Nicht-Ärzte – ohne staatliche Erlaubnis – befugt sein sollten, Heilkunde ausüben. Die Befürworter einer allgemeinen Kurierfreiheit sprachen sich für eine zulassungsfreie heilkundliche Tätigkeit aus; deren Gegner forderten, medizinische Handlungen ausschließlich Ärzten vorzubehalten. Zumindest sei die Ausübung heilkundlicher Maßnahmen an eine staatliche Überprüfung und Genehmigung zu binden.

Entsprechende Bestrebungen reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück. Anlass hierfür waren jeweils Missstände, die durch das Praktizieren unqualifizierter, lediglich profitorientierter Personen zutage traten. Deren Wirken gefährdete erheblich die Gesundheit der „behandelten“ Patienten. Durch die Einführung von Berufszulassungs- und Berufsausübungsregelungen versuchte die staatliche Gewalt, präventiv für die Gesundheit und das Leben der Bürger zu sorgen. Dem lag bereits damals der Gedanke zugrunde, der Staat habe die seinen Einwohnern durch das „Kurpfuscherwesen“ drohenden Gefahren abzuwehren. Diese Überlegung findet unter dem Schlagwort „staatlicher Schutzpflichten“ auch Eingang in die aktuelle Diskussion über die Heilpraktikerschaft.

Städtische Medizinalverordnungen schränkten zu Beginn der Neuzeit erstmals die allgemeine Kurierfreiheit ein. Im 17. und 18. Jahrhundert übernahmen die neu gegründeten deutschen Teilstaaten diese Regelungen und modifizierten sie. Im Jahr 1794 nahm Preußen einen Erlaubnisvorbehalt für heilkundliche Tätigkeiten in sein Allgemeines Landrecht auf. Im 18. und 19. Jahrhundert ersetzten Spezialanordnungen mit erheblichen Strafbestimmungen die Medizinalordnungen. Diese rechtlichen Vorgaben sahen vor, dass die Heilkunde approbierten Personen vorbehalten blieb. Da die staatliche Approbation jedoch auf schulmedizinische Behandlungsformen ausgelegt war, konnten Heilpraktiker eine solche Zulassung nicht erhalten. Den Patienten war somit der legale Zugang zu naturheilkundlichen Behandlungsformen verstellt.

Nachdem auch in der Folgezeit der Zulauf zu so genannten „Kurpfuschern“ unverändert hoch blieb, wurde letztlich selbst der aktive Besuch bei einem Naturheilkundigen unter Strafe gestellt.

Der Norddeutsche Bund stellte 1869 durch seine Gewerbeordnung die allgemeine Kurierfreiheit wieder her. Hierfür waren zwei Motive ausschlaggebend: Zum einen sollte der Einzelne in der Wahl seines Heilbehandlers frei sein. Zum anderen setzte sich die Erkenntnis durch, dass der trotz bestehender Verbote unverändert starke Zulauf der Bevölkerung zu Naturheilkundigen, allein mit rechtlichen Mitteln nicht zu unterbinden sei. Diese Regelung erstreckte sich in der Folgezeit auf das gesamte Hoheitsgebiet des Deutschen Reichs.

Der Wegfall der bislang bestehenden Berufszugangshindernisse förderte das Wachstum der Heilpraktikerschaft. In Preußen waren 1898 bereits 2404 Heilpraktiker tätig; ihre Anzahl hatte sich innerhalb von 20 Jahren verdreifacht. Bis zum Jahr 1907 stieg diese Zahl auf etwa 12.000 Naturheilkundige an. Als unerwünschte Begleiterscheinung dieses Zuwachses beriefen sich neben seriösen „Naturheilkundigen“ auch ausschließlich profitorientierte Personen mit unzureichenden Fachkenntnissen auf die Erfolge naturheilkundlicher Heilmethoden. Die durch diese „Kurpfuscher“ ausgelösten Gefährdungen der Patienten schürten die ablehnende Haltung der Ärzteschaft gegenüber sämtlichen naturheilkundlichen Behandlern. Sie initiierte deshalb wiederholt Gesetzesinitiativen zur Einschränkung oder Abschaffung der allgemeinen Kurierfreiheit.

Diese Bemühungen scheiterten, weil der Gesetzgeber wegen seiner historischen Erfahrung befürchtete, die betroffenen Heilbehandler durch ein solches Verbot „in verborgene Winkel hinein zu treiben, wo sie, weil unbeaufsichtigt, noch größere Schäden hervorrufen könnten.“ Die in dieser Zeit aufgetretenen Missstände beeinträchtigen bis heute das Ansehen der Heilpraktikerschaft. Die Angriffe der Ärzteschaft stärkten den Zusammenhalt unter den naturheilkundlichen Behandlern. Sie begannen sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Verbänden zu organisieren. Vorrangig dienten diese Zusammenschlüsse dazu, die Interessenvertretung der Heilpraktiker zu organisieren. Ferner erkannten die seriös arbeitenden Heilpraktiker die Notwendigkeit, die fachlichen Fähigkeiten der Berufsangehörigen zu verbessern. Hierzu sollten die Interessenvertretungen einheitliche qualitative Standards erarbeiten.

Im nächsten Newsletter wird dieser Beitrag fortgesetzt. Dann beschäftige ich mich mit dem Thema: Der Heilpraktikerberuf in der Zeit von 1933 bis 1945.